Das war ein Tag gestern: viermal null Fehler auf der Tafel für die deutschen Springreiter, ich kann mich nicht erinnern, das bei einem Championat schon mal erlebt zu haben. Bei normalen Nationalpreisen startet dann der vierte Reiter nicht mehr, aber Richard Vogel brauchte ja das Ergebnis für seine Einzelwertung. Die führt er nun an, nachdem der irische Einzelreiter Daniel Coyle zurückgezogen hat. Was der übrigens schon unmittelbar nach seinem Ritt angedeutet hatte. „Ich glaube nicht, dass ich hier bis zu Ende reite“, hatte er gesagt. Sein Pferd Legacy war nicht in Ordnung.
Bundestrainer Otto Becker war auch gestern kein begeistertes Strahlen zu entlocken, es sei ja erst zwei Drittel vorbei und zu früh zum Jubeln. Das wollte er seinen Reitern gestern Abend nochmal deutlich machen. Denn heute, bei der zweiten Nationenpreisrunde wird Parcourschef Santiago Varela wohl noch einen draufpacken. Das muss er auch, 34 Nuller, das sind einfach zu viele und noch immer liegen alle so dicht beisammen, dass ein einziger Fehler ein Team oder einen Reiter weit nach hinten werfen kann.
Zu denen, die in die allgemeine Euphorie über Varelas Kurse nicht einstimmten, gehörte Paul Schockemöhle. „Viel zu viele Nuller, das ist höchsten ein Viersterne-Parcours“, grummelte er. Er hatte auch einen Verbesserungsvorschlag: „Am Ende noch einen Doppelsprung aus Planken und schon hast du ein paar Nuller weniger“. Bei seinem EM-Sieg mit Deister in Hickstead, mehr als 40 Jahre her, gab es schon dieselbe Formel. „Aber nur sieben Nuller im Zeitspringen.“
Man muss Varela zugutehalten, dass er in der ersten Nationenpreisrunde auch noch an die schwächeren Reiter denken musste, heute hat er nur noch 58 statt 89 Starter, die zehn besten Teams und 18 Einzelreiter. Da wird er sich schon was einfallen lassen.
Mit der Mannschaftsnominierung ist das ja so eine Sache. Lag die deutsche Mannschaftsführung goldrichtig, – der fünfte Mann, Hansi Dreher auf Elysium, hat hier nicht das glücklichste Turnier – so könnten sich die Schweizer ärgern, dass sie nicht Janika Sprunger, die Ehefrau des schwedischen Weltmeisters Hendrik von Eckermann, ins Team genommen haben, die hier mit vorzüglichen Nullrunden auf Orelie im Vorderfeld liegt, während Martin Fuchs, der Sieger von Aachen, gestern nach vier Abwürfen von Connor Jei aus der Einzelwertung ganz raus ist. Ich guckte gestern vom Einritt aus zu, die ganze Schweizer Blase stand dort mit betretenen Gesichtern, als Fuchs herausritt und stumm Richtung Stall abwendete. Gab ja auch nicht viel zu sagen. Andere, bei denen es besser gelaufen war, wurden in diesem Moment Schenkel-tätschelnd von ihren Teamkollegen in Empfang genommen.
Man konnte am Einritt die Pferde mal von ganz nah sehen und mir fiel auf, dass die allermeisten ziemlich normal gezäumt waren, mit einem Trensengebiss, das eine oder andere Hackamore, auch mal eine Kandare. Natürlich habe ich nicht alle Pferde gesehen, aber schon morgens, beim Training in der Halle, das wir von unseren Pressearbeitsplätzen hautnah verfolgen können, war mir aufgefallen, wie völlig locker, mit ganz einfacher Zäumung die meisten Pferde geritten wurden. Das hätten sich die so genannten Tierschützer gerne mal angucken können.
Übrigens sind rund ein Drittel der Starter Frauen, so viele waren es nach meiner Erinnerung noch nie. Eine davon ist die Schweizerin Nadja Peter Steiner und sie strahlte nach ihren Nullrunden noch mehr als alle anderen. Mila, die inzwischen 13-jährige Schimmelstute, übrigens eines der acht von Gestüt Lewitz, also Paul Schockemöhle, gezogenen Pferde, war die Stute, auf der Ludger Beerbaum in Aachen 2023 bei einem Abschiedsritt saß. Eigentlich sollte sie in Riesenbeck bleiben, noch ein paar Jahre unter dem seinem irischen Bereiter gehen und dann ihren Ruhestand genießen, aber die Mutter von Nadja Peter Steiner hatte sich in Mila verliebt, kaufte sie für ihre Tochter als Überraschungsgeschenk, ohne TÜV, ohne Ausprobieren. So sicher war sie, dass es passen würde zwischen den beiden. Beerbaums einzige Bedingung: Die Pflegerin begleitete Mila die ersten 14 Tage nach Frankreich, wo Nadja Peter Steiner lebt, und gab Tipps, wie es die Pferdedame gerne hätte, das richtige Futter, den richtigen Beschlag, die richtige Betreuung. Und es funktionierte: Nie sah man Mila besser und zufriedener als bei dieser EM.
Übrigens habe ich noch nie nach einem Nullritt einen unzufriedeneren Reiter als Christian Kukuk gesehen. Tatsächlich hatte er sich gleich am Anfang des Parcours vor Hindernis 4 vermetert, die Stute Just be Gentle rettet die Situation und den ganzen restlichen Parcours. Es sei sein schlechtester Ritt seit vielen Jahren gewesen, sagte er und überhäufte sich mit Selbstvorwürfen. Asketische Mönche, denen er mit seinem Sieben-Tage-Bart ja nicht unähnlich ist, pflegten sich früher in solchen Situationen bis aufs Blut selbst zu geißeln. Otto Becker konnte ihn hoffentlich davon abhalten. Mit Platz sechs liegt Kukuk weniger als einen Springfehler vom Führenden Richard Vogel weg.
Der hatte keinen Grund zu klagen, hatte seinen United Touch bestens im Griff, vielleicht auch dank einer ausgeklügelten Abreitephilosophie: Mehrfach zwischendurch ritt er in die Ecke, wo die Pflegerin Felicia stand und saß ab, damit der Hengst mit den Nerven wieder runterkommen konnte. „Er merkt, dass dies eine besondere Woche ist und wird schnell mal kribbelig“, sagte Vogel. Sie sei seine Vertrauensperson, da könne sich United Touch nochmal entspannen. War wohl genau die richtige Taktik. Der allerletzte Reiter, Scott Brash, ließ das Blut der Briten-Fans nochmal gefrieren. Am Oxer vor der Dreifachen riss ihm seine Stute Hello Folie die Zügel aus der Hand, sodass er quasi ohne Zügel vor der Dreifachen, der größten Klippe des Parcours, stand. Was die brave Stute nicht hinderte, sich über die Steil-Oxer-Oxer-Kombination zu schrauben, während ihr Reiter seine Fahrleinen sortierte. „Was `ne Scheiße“, habe er gedacht. Aber auch: was für ein Pferd!